Wie ich mir selbst ein Leben lang die falsche Geschichte erzählt habe

Der Pub im Herzen von Dublin ist voll mit Menschen, überall wird getrunken, getanzt, gesungen und gelacht. Meine Freundin und ich sind so ziemlich die einzigen, die am Rand sitzen und uns das Spektakel einfach in aller Ruhe anschauen. Direkt vor uns bemerke ich ein Pärchen, von dem ich meine Augen nicht mehr lassen kann. Sie stehen einander gegenüber, halten sich an den Händen und versuchen sich in irischen Tänzen, wobei der Typ einfach dauernd über seine eigenen Füße stolpert. Es fesselt mich förmlich, ihnen zuzusehen, wie spielerisch sie miteinander Spaß haben, während es zwischen ihnen so laut knistert, dass jede auch noch so verletzte Seele sofort aufspringen und sich frisch verlieben möchte.

„Wie frei die beiden sind“, denke ich sehnsüchtig. Dabei merke ich unweigerlich, wie der fesselnde Anblick sich zu Fesseln in meinem Inneren verwandelt und sich in mir eine Traurigkeit ausbreitet wie ein Geruch aus alten Zeiten. Sie ist zurückgekehrt, die fesselnde Traurigkeit in mir, um mir eine wohl bekannte Geschichte zu erzählen, die mich mit immer wiederkehrenden und vertrauten Motiven an sich bindet: Es war einmal eine junge Frau, die es nicht verdient hatte, so frei und glücklich zu sein wie die anderen Menschen, eine junge Frau, die nicht das gleiche Maß an Liebe, Zuneigung und Glück verdient hatte wie andere Menschen, weil sie einfach nicht gut genug dafür war.

Von hier aus bin ich nur eine Wahrnehmende, eine Schauende, während die beiden ausgelassen im Mittelpunkt des Geschehens tanzen. Je länger ich ihnen zusehe, desto tiefer wird der von mir empfundene Graben zwischen uns – sie, die Glücklichen, Ausgelassenen, die sich ihre kindliche Freude bewahrt haben, die ohne Probleme durch das Leben tanzen und ich, die Einsame, Ängstliche und Schüchterne, die Perfektionistin, die es sich nicht erlauben kann so frei zu sein wie sie. Und je tiefer der Graben zwischen uns, umso größer wird auch die Anzahl an Ungeheuern und Monstern, die sich in ihm versammeln, nur um mir schlechte DInge über mich selbst zu erzählen. Und natürlich um mir klarzumachen, dass diese Menschen mir am Ende eh wieder nur wehtun werden. Wehtun mit ihrer Offenheit, wehtun mit ihrer Freude, wehtun mit ihrer Liebe.

Es dauert nicht lange, da überschreitet der Typ einfach so und ohne amtliche Genehmigung den Graben, den ich in meinem Inneren sorgfältig manifestiert habe, und beginnt ein Gespräch mit uns. Seine Energie ist förmlich ansteckend, aber was er zu erzählen hat irritiert geradezu unverschämt das Bild, das ich vor meinem inneren Auge so klar erzeugt habe. Von harter Arbeit spricht er und von Krankheit, davon, dass er seine Heimat vermisst. Zwischenzeitlich wendet er sich wieder von uns ab, um sich erneut tollpatschig und lachend im irischen Volkstanz zu versuchen.

In mir haben sich über lange Zeit tiefe Überzeugungen manifestiert, die nichts mit der Welt um mich zu tun haben, sondern alleine mit mir. Sie sind die Summe aus allen Verletzungen und Misserfolgen, die ich erlebt habe, gepaart mit den Lösungsstrategien, die ich mir zurechtgelegt habe, um solchen Verletzungen zukünftig aus dem Weg zu gehen. Zusammengenommen bilden sie in mir ein Narrativ, das mich die Welt auf eine bestimmte Art und Weise wahrnehmen lässt und sich durch diese meine Art, die Welt um mich herum zu lesen, ständig neu bestätigt fühlt. Und die Geschichte, die es mir erzählt, ist keine gute. Du bist eh unwert, also lass es doch einfach gleich bleiben, erzählt sie mir. Du bist einfach nicht gut genug, erzählt sie mir. Und während der Typ zum hundertsten Mal laut lachend den Tanzschritt einfach nicht rafft, denke ich zum ersten Mal, dass, wenn ich Menschen auf Basis meiner eigenen inneren Überzeugungen über mich ablehne, ich damit auch all das Gute, das Freie und das Spielerische in mir ablehne, das nur darauf wartet geliebt und anerkannt zu werden.

In Wahrheit ist es doch so: Jede Geschichte von Schmerz und Verletzung ist auch eine Geschichte von der Fähigkeit, sich zu öffnen und zu lieben, jede Geschichte über das eigene Versagen ist auch eine Geschichte darüber, wie man wieder aufgestanden ist und neu angefangen hat, jede Geschichte über die eigene Angst erzählt auch eine Geschichte darüber, wie man die Angst überwunden hat, und eine jede Geschichte über Ablehnung birgt das Potenzial zu einer Geschichte von bedingungsloser Selbstliebe in sich.

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Breit grinsend steht der Typ wieder vor uns und fragt meine Freundin, bewaffnet mit einer 10-Cent-Münze: „Kopf oder Zahl?“ – „Kopf!“, sagt sie voller Überzeugung, kurz bevor er die Münze aufdeckt und es tatsächlich Kopf ist. Ich bin an der Reihe, wähle Zahl und…. ich liege falsch. „Ist gar nicht schlimm, Birgit“, sagt der Typ, „Schau, wenn das Leben dir nicht das gibt, was du dir wünschst, dann nimmst du es (nimmt die Münze in die Hand) und drehst es einfach um (dreht die Münze um, sodass Zahl oben liegt).“

Und so entsteht in mir ein neues Narrativ. Ein Narrativ, das davon ausgeht, dass es meine Entscheidung ist, was ich in meine Geschichte reinlasse, um sie neu zu schreiben, um meine Vergangenheit umzudeuten und meine Zukunft neu zu gestalten. Ich habe, genau betrachtet, so viel Liebe gefunden gerade auf jenen Wegen, die ich eingeschlagen habe in der Überzeugung, der Liebe nicht wert zu sein, und so viel Stärke auf den usnichersten meiner Pfade. Aber es war meine Entscheidung, mir selbst immer wieder nur von den Ausgangspunkten meiner Reise zu erzählen, anstatt davon, was ich unterwegs gefunden habe oder wer ich unterwegs geworden bin. Die vielen Ungeheuer und grausligen Gestalten in mir werde ich nicht bezwingen, indem ich mich ihnen geschlagen gebe und sie auch noch mit all den negativen Gedanken über mich füttere, sondern indem ich ihnen all das Gute und Schöne in mir entgegenhalte wie einen Spiegel meiner selbst, der die Macht hat, sie zu schwächen und letztendlich zu zerschlagen.

Und das wird Mut brauchen. Mut, der damit beginnt, mein altes Narrativ zu hinterfragen, sobald es wieder in mir Wurzeln schlagen will. Mut, Dinge offen an- und auszusprechen, aufzuhören zu schweigen und mich zum Ausdruck zu bringen gerade an den Stellen, an denen es besonders wehtut, um dem Negativen keinen Nährboden mehr zu bieten. Aber wie viel Mut braucht das schon im Vergleich zu dem Mut, den es mich gekostet hat, mit all den Horrogeschichten in mir zu leben, all die Zeit lang? Denn es war einmal eine junge Frau, die sich all ihren Verletzungen mutig stellte, die der eigenen Angst trotzte, die für sich selbst eingetreten ist, die immer und immer wieder aufgestanden ist und die sich allen Umständen zum Trotz ein jedes Mal erneut für die Liebe entschieden hat, weil jedes Glück auf ihrem Weg für sie gerade gut genug war.

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