Kritische Öffnungsschritte, Transformationen, ein Kleiderschrank

Bald schon beginnen die ersten Öffnungsschritte und vorsichtig, ja noch sehr vorsichtig fragt sich die Resthoffnung in uns, ob es vielleicht einen halbwegs normalen Sommer geben wird.  Einen Sommer, in dem wir die Überreste dessen, was wir als „Normalität“ erachten, ungezügelt leben können. Über ein Jahr ist es her, dass wir uns in den ersten Lockdown verabschieden mussten und seither gab es wenn überhaupt nur kurze Phasen, in denen das Leben vermeintlich „normal“ funktionierte. Vor etwa einem Jahr noch standen wir ein wenig unter Schock, so einen einschneidenden Eingriff in unser Leben kannten wir bislang nicht. Kein Konsum, keine Unterhaltung, keine Menschen, kein Nichts außer uns selbst in unseren eigenen vier Wänden – ein bisschen fühlte es sich an, als wären wir alle kollektiv aus dem gleichen Rausch aufgewacht, mit dröhnendem Schädel und irgendwie, irgendwie wussten wir auch gar nicht mehr so genau, wie wir hierher gekommen sind.

Es war dann plötzlich ganz einfach,  in der eigenen Komfortzone zu bleiben – neuerdings sogar auf staatliche Anweisung und ärztlichen Rat.  Perfekt! Und da man in der Quarantäne auch ungeniert Selbstgespräche führen konnte, genoss ich für meinen Teil  das Privileg, mich endlich mal mit einer wirklich, wirklich kompetenten Gesprächspartnerin auszutauschen. Doch schon nach kurzer Zeit mischten sich noch andere Stimmen unüberhörbar in meine Selbstgespräche mit ein…

Beim bloßen Blick in meinen überfüllten Kleiderschrank schrie mich diese Masse an Kleidern, die da drin so völlig sinnlos rumhing, lautstark und vorwurfsvoll an. Wen wollte ich damit eigentlich beeindrucken, fragte ich mich beim Anblick einer viel zu teuren, ungetragenen Bluse. Kleider machen ja bekanntlich Leute. Manchmal machen Kleider Leute offensichtlich auch verrückt, weil sie nämlich zu viele davon haben und diese sich unübersichtlich im Kleiderschrank türmen.  Jetzt, wo keine Außenwelt mehr da war und ich seit Tagen in derselben Pyjamahose rumgammelte, erschien mir das als äußerst lächerlich.

Eigentlich ziehen wir uns ja doch immer wieder das Gleiche an, dieselbe alte Hülle, meistens das, was eben gerade da und gut erreichbar ist. In den hinteren Reihen türmen sich neben tief bereuten Fehlkäufen auch längst vergessene gute Stücke, in die man wieder reinwachsen will oder die man sich für besondere Anlässe vorbehält. Kurz gesagt: Hier in meinem Kleiderschrank mischten sich vor meinen Augen die Fehler aus der Vergangenheit mit wagen Zukunftsvisionen und nur ein kleiner Ausschnitt dessen, was ich dort noch vorfand, spiegelte die gegenwärtige Lebensrealität wider – eine Lebensrealtität, mit der niemand so gerechnet hatte, und dennoch war sie da.

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Und mit ihr wir alle. Ihr Menschen da draußen, die plötzlich nur noch drinnen waren, ihr wart alle da und sichtbar mit euren schillernden Persönlichkeiten, euren Sehnsüchten und lang gehegten Träumen. Ihr wart sowas von da. Ihr habt Projekte angestoßen, Solidarität gezeigt, gesellschaftliche Probleme offen angesprochen, die wir schon viel zu lange ignoriert hatten. Ihr habt einander unter die Arme gegriffen um Existenzen, so gut es nur möglich war, zu sichern. Künstler*innen zu unterstützen, Einzelunternehmer*innen, Gastronomen. Wir alle haben verstanden und gespürt, wie ungerecht die Bildungsvoraussetzungen in Österreich immer noch sind und uns gefragt, warum ausgerechnet die systemrelevanten Berufe, die am Ende für uns den Laden am Laufen halten, so schlecht bezahlt sind. Wir haben zueinander Kontakt aufgenommen, regelmäßig nachgefragt, wie es uns geht, Streitigkeiten beiseite gelegt und uns auf Wichtigeres konzentriert.

Kaum waren die Türen zu, waren wir alle offen wie sonst niemals und ohne dass ich euch in euren Outfits gesehen habe, weiß ich, dass ihr alle wunderschön wart. All die Normalität, in der wir uns zuvor geflüchtet hatten, die uns so viel vermeintliche Sicherheit gegeben hatte, war weg, wie ein Grauschleier, und plötzlich konnten wir die Dinge klarer sehen.

Und natürlich war das Bild, das wir da vorgefunden haben, nicht unbedingt in allen Facetten schön. Da stand ich nun in meiner Wohnung, drehte mich vom Kleiderschrank weg und musste sie unmissverständlich erkennen: Sämtliche materiell-gewordenen Kompensationsversuche meiner eigenen Unzulänglichkeiten haben mich umzingelt und zeigten mit dem Finger auf mich. Unbenutzte Haushaltsgeräte, die mir das Gefühl geben sollten, mein Leben im Griff zu haben, lachen mich von allen Seiten aus. Ungelesene Bücher stellen mich zur Rede, warum ich sie im Regal einstauben lasse. Habe ich sie etwa nur benützt, um mich klüger zu fühlen und dann einfach abgestellt, um mich mit Netflix zu vergnügen? Ähm… maybe.

Meine einstige Komfortzone ist damit zu einem hässlichen Ort geworden, in dem ich mich gemobbt fühlte. Ich musste hier raus, raus aus meiner eigenen Komfortzone. Weil ich aber nicht raus konnte, blieb mir nichts anderes übrig als reinzugehen – und zwar mitten in die Auseinandersetzung mit mir selbst. Auf diesem Wege stellte ich fest, dass meine Lieblingsquarantänegesprächspartnerin auch mit all ihren Unzulänglichkeiten, Trotteligkeiten und Unsicherheiten eine durchwegs sympathische Frau ist. Und ich lernte jeden Tag etwas Neues von ihr und über sie.

Wenn wir uns mal in der Gesellschaft umsehen, wird es uns nicht anders gehen. Da sind so viele Baustellen, die wir einfach nicht wahrnehmen oder wahrhaben wollen, weil es einfacher ist, uns stattdessen mit Unterhaltung, Konsum und Ablenkungen zu „berauschen“. Es ist nicht schön, da wirklich mal genau hinzuschauen, es ist auf eine neue und schirche Art ernüchternd, die viele unangenehme Fragen nach sich ziehen kann. Und die Frage, die sich mir spätestens seit dem zweiten, dritten ich wie nicht mehr wievielten halbseidenen Lockdown unermüdlich aufdrängt: Ist das die Normalität, in die wir nun zurück wollen? Werden wir alles so lassen wie es war und es eben einfach hinnehmen, uns allerhöchstens pseudokritisch in elitär-gebildeten Runden darüber mokieren? Fragen über Fragen, während ich selbst innerlich mit den Hufen scharre, um mir das nächste Outfit zu kaufen, mit dem ich nach außen tragen kann, wer ich wirklich bin. Ja aber, wer bin ich denn wirklich?

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Schwere Frage. Ich sortiere erstmal meinen  Kleiderschrank neu, nach all den Farben und Formen, die ich in ihm finden kann. Dadurch wird der Blick auf das Wesentliche frei und die neu gewonnene Übersicht hilft mir dabei zu erkennen, was mir wirklich noch fehlt. Und SPOILER ALERT nein, der gefühlt 74. Pullover in irgendeinem Nude-Ton ist es wohl nicht. Und auch die vielen Stücke, in die ich seit Jahren nicht mehr reinpasse, werden es wohl nicht mehr sein. Warum sollte ich auch versuchen, in etwas wieder hineinzupassen, das ich seit Jahren hinter mir gelassen habe? Oder letzte Woche? Nichts davon scheint mehr richtig zu sitzen, obwohl alles noch gleich ist. Nur ich habe mich verändert.

Und damit bin ich nicht alleine. Ich habe Menschen gefragt, was sie aus einem Jahr Corona für sich mitnehmen, aber auch, was sie hinten lassen. Da waren große und kleine Dinge dabei, aber alle waren im wahrsten Sinne (welt)bewegend. Fast alle haben sich mit dem Gefühl der Kontrolle über das eigene Leben auseinandergesetzt, damit, zu erkennen, wie wenig Kontrolle da ist und aus der Erkenntnis heraus all das festzuhalten, was man gefühlt unter Kontrolle halten kann. Die Menschen in der Nähe, die kleinen Dinge besser wertschätzen, den Blick auf das Wesentliche richten. Vor allem war jede einzelne Antwort bewegend im Sinne von transformierend, da alle ein Stück weit die Konzeption über sich selbst verändert oder erweitert haben. „Ich habe gemerkt, dass ich doch ein soziales Wesen bin“, „Ich habe erkannt, dass ich lieber auf dem Land lebe“, „Ich habe zu meiner Kreativität gefunden“, „Ich habe gesehen, wie sehr ich den Kontakt zu anderen brauche“ – all diese Aussagen bergen so viel positives Veränderungspotenzial in sich, getragen von purer und reiner Selbsterkenntnis.

Dabei muss man nicht alles wegschmeißen. Alles, was wir waren ist in allem was wir sind immer noch enthalten und in allem was wir sein werden. Es geht darum, den Werdegang zu würdigen. Ich werde vielleicht ein paar meiner alten Stücke upcyceln. Ich kann aus all dem, was ich nun zurücklasse, etwas Schöneres für die Zukunft gestalten.

Vielleicht ist das der Punkt, der mich ein bisschen ängstigt. Die Gestaltungsmacht. So wichtig es ist, dass wir zurückkehren ins Leben, so sehr habe ich Sorge, dass wir diese Transformationskraft in uns dann wieder vergessen und liegen lassen. Individuell und gesellschaftlich.  Vielleicht tue ich mich leichter mit dem Gedanken, nicht ins Leben zurückzukehren, sondern in neues Leben aufzubrechen. Ich wünsche mir ein Leben nach Corona, aber zurückkehren will ich nicht. Dazu sind wir zu weit gekommen, im Einzelnen und im Gemeinsamen.

Wir haben so  sehr darum gekämpft, dass eine Normalität wieder möglich wird, wir dürfen jetzt einfach den Moment nicht verpassen uns zu fragen, wie diese Normalität denn aussehen KÖNNTE. Denn wenn die Pandemie mich eines gelehrt hat, dann: Wenn du beginnst, von innen heraus zu sehen, beginnt sich vieles, sehr vieles in dir zu drehen.

 

 

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