10.000 Schritte Tag 1: Zweifel, Krieg und Frieden

Ich bin einfach so losgegangen. Ich wusste irgendwie, wenn ich jetzt nicht gehe, würde ich nie mehr gehen. Bloß keine Ausreden mehr finden, sondern losgehen. Also bin ich gegangen wie ich war, in meinen Flipflops, mit meinem Outfit des Tages. Und ich hatte auch keine Ahnung, in welche Richtung ich gehen sollte, ich ließ mich von meinem Gefühl treiben, und, wie das manchmal so ist: Mein Gefühl hat mich in eine Richtung getrieben, mit der ich nicht gerechnet hätte. Mitten hinein in die  Innenstadt, obwohl ich eigentlich niemanden treffen wollte. Ging es hierbei nicht darum, für mich allein zu sein? 

Nach den ersten Schritten machte ich die Erfahrung, dass die Ziellosigkeit, mit der ich ging und mich rein von meiner Intuition steuern ließ, ein schönes, wenn auch neuartiges Gefühl war. Ich war in einem anderen Programm als die meisten anderen und vor allem in einem anderen Programm als ich selbst „normalerweise“ bin. Ich, ungeduldig wie ich sonst bin, gehe hastig und habe dauernd nur das Ziel vor Augen. Der Weg hat für mich oft keinen Wert, ist er doch nur das Zwischenstück, das mich von meinem Ziel lästigerweise entfernt. Und manchmal, da gestaltet sich der Weg zum Ziel auch noch holprig, schwierig, langsamer oder länger als erwartet. Es sind Momente wie diese, in denen ich dann ziemlich schnell aus der Haut fahre. Normalerweise. Ich will immer nur ankommen. Mein Lebensstil als Freelancerin mit vielen unterschiedlichen Terminen jeden Tag forciert das auch noch. Ich muss immer da sein, immer vor Ort sein, immer hundert Prozent sein. Niemand bezahlt mich dafür einfach nur unterwegs zu sein. Aber noch viel schlimmer ist: Ich erlaube mir nicht, einfach nur unterwegs zu sein. Und niemals bin ich wirklich angekommen. Es ist ein Leben ohne Zwischenräume. Paradoxerweise fühle ich mich dabei oft so sehr in einem Tunnel, dass ich ganz vergesse, auch mal hinzuschauen. Zu schauen, was mir auf meinem Weg begegnet.

Heute begegnen mir viele Menschen, die ich gerne als Freizeitmenschen bezeichne. Beim Eisessen, Sporteln, beim Kaffeetrinken und beim sich gerade frisch Verlieben. Urbane Freizeitmenschen eben. Und als ich da so an ihnen vorbeigehe, sind sie gleichzeitig so wahnsinnig weit von mir entfernt, Lichtjahre und ganze Galaxien liegen zwischen uns. Früher bin ich auch eine von ihnen gewesen, aber jetzt kann ich irgendwie nur mehr auf sie herabblicken. Ich meine das nicht wertend, sondern ich fühle mich eben ganz woanders. Und ich verstehe auch nicht, was der Inhalt ihres ach so geschäftigen Strebens nach Liebe, Freizeit, Gesellschaft ist. Ich bin  viel zu sehr mit Dingen beschäftigt, die sich in mir selbst abspielen. 

Fragen zum Beispiel. Fragen wie etwa: Was, wenn meine Füße anfangen, in diesen Flipflops wehzutun? Was, wenn die unpassende Kleidung meine Beine aufscheuert? Was, wenn ich es nicht schaffe, so eine weite Strecke an einem Stück zu gehen, wo ich es mir doch aber genau so vorgenommen hatte und ich keine halben Sachen machen mag? Was, wenn das Wasser in meiner Flasche nicht reicht? Was, wenn sich herausstellt, dass das Gehen nicht befreiend sondern nur unangenehm und quälend für mich sein würde?

Da war sie plötzlich, die eine Frage. Tatsächlich gab es eine Frage, die ich mir nicht gestellt hatte, was schon ziemlich bemerkenswert ist, wenn man denkt, wie viele absurde Zweifel ich sonst so an den Tag lege. Es war mir schlicht einfach gar nicht in den Sinn gekommen: Was, wenn ich, anstatt mich von all dem Schmerz aus der Vergangenheit freizugehen, mitten in den Schmerz hineingehen würde?

Meine Intuition entschied an dieser Stelle, dass es Zeit war, aufwärts zu gehen. Vor der Steigung treffe ich noch eine alte Freundin, ein bekanntes Gesicht, das bereitsitzt wie eine perfekt vom Regieassistenten platzierte Komparsin. Wir quatschen über dies und das, neue Entwicklungen und alte Zeiten, gemeinsame Bekannte und was man eben so quatscht. In vielen Dingen bleibt die Zeit stehen und dennoch entwickelt sich alles weiter. 

Ich gehe weiter und beginne über Menschen nachzudenken, die mir früher wichtig waren und Menschen, zu denen ich kaum noch Kontakt habe. Ich denke über viele Situationen und viele Entscheidungen, die ich getroffen habe, nach, und frage mich, ob sie richtig waren. Auf dem Weg sind viele meiner Freundschaften verloren gegangen, aus den einen oder anderen Gründen. Es ist nicht so, dass ich ihnen nachtrauere. Im Gegenteil. Oft erinnere ich mich an Dinge, wie sie waren, manchmal nostalgisch aus dem Auge des Betrachters aus der fernen Zukunft, und dann wieder fallen mir Verletzungen ein wie Nadelstiche, die passiert sind, teils subtil und teils ganz offensichtlich. 

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Jetzt aber gehe ich endlich aufwärts und zwar genau in jenen Stadtteil, in dem ich so viel Zeit verbracht habe und den ich jetzt so lange gemieden hatte. Zu viel Erinnerung, zu viel Kindheit, die jetzt doch irgendwie verloren scheinen. Es ist wie ein dunkler Fleck in der Geografie meines Lebens. Ab und zu noch bin ich mit dem Auto hier vorbeigefahren, vielleicht auch nur, um zu schauen, ob dieser Teil eigentlich noch existiert oder ob er vor meinen Augen umklappen und sich als billige Fälschung entpuppen würde, als Lüge, die es für manche an diesem Punkt nicht wert war, weitergelogen zu werden – ein bisschen so, wie auch meine Kindheit und Jugend, die ich hier verbracht habe, sich aus der heutigen Perspektive oft anfühlen. 

Zum ersten Mal überhaupt kann ich die wilde Schönheit des Stadtteils erkennen, den dörflichen, ruralen Charakter, gepflanzt auf einen Hügel und eingebettet in eine Stadt. Wahre Schätze lassen sich hier finden, wenn man sich die Zeit nimmt. Es gefällt mir hier, so selbstverständlich und so urverwandt. Hier also liegt ein Teil von mir. Und das Gehen, obwohl es mühsam bergauf geht, fühlt sich plötzlich mit jedem Schritt mehr nach mir an. Oder vielleicht gerade deswegen, als plötzlich mitten in meiner Vergangenheit die Person vor mir steht, die die letzte und entscheidende Nadel in mein Herz gebohrt hat. In vorauseilendem Gehorsam postieren sich Tränen in meinen Augen, aber gleichzeitig merke ich, dass es nicht mehr wehtut. Im nächsten Moment schon stehe ich vor einer Sackgasse, einer Absperrung, einem Ende, bis ich merke, dass es noch nicht aufhört und ich den Weg trotz allem passieren kann. Der Dämon wird wieder laut, der mit der Vergangenheit hadert. Bin ich am Ende zu weit und zu schnell vor ihr davongegangen? Geduckt geflohen auf ständigem Rückzug, im Kugelhagel der Verletzungen, jeder weiteren Tretmine ausweichend? Habe ich die Front zu hastig freigegeben? Wer steht nun für mich an der Verteidigungslinie und kämpft – um nichts Geringeres als mein Leben?

Ist es am Ende vielleicht so, dass der Schmerz im Ausweichen und im Wegducken am größten ist? Und könnte es gar sein, dass inmitten der Krater auf dem Schlachtfeld hinter mir Samen liegen, die eines Tages als Blüten all die Liebe zutage treten lassen, die ich hier zurückgelassen habe? Liegt dann all die Ablehnung, die ich so leidvoll erfahren musste, am Ende nur in mir selbst? Und mit ihr auch das Schlachtfeld, auf dem ich stand? Wenn das so wäre, dann gäbe es am Ende auch gar keine Front, an der ich kämpfen müsste, oder? Dann würde ich eines Tages zurückblicken und nichts als Frieden finden.

„Um in den Rosengarten einzutreten, schließt die Seele Frieden mit den Dornen.“ Rumi

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