Aus dem Leben einer Deutschlehrerin

Es ist wieder soweit. Ich stehe an der Schwelle und warte. Drinnen ist schon alles vorbereitet. Bald werden die ersten eintrudeln. Im Laufe des Nachmittags erwarte ich etwas über 30 Menschen, die heute zum ersten Mal einen Deutschkurs besuchen. Die meisten von ihnen haben lange Zeit darauf gewartet, denn an Kursplätzen mangelt es immer noch massiv.

Wie viele Menschen habe ich in den letzten Jahren schon kommen und gehen sehen. Unzählige. Ein paar hundert bestimmt. Wahrscheinlich mehr. Viele von ihnen habe ich längst vergessen. Viele treffe ich aber auch in bestimmten Abständen immer wieder. Sie erzählen mir dann meist freudestrahlend, dass sie endlich eine Wohnung gefunden haben und laden mich gleich zum Essen ein. Oder sie berichten mir von ihrer neuen Arbeit. Oder ein junger Mann stellt mir nach langer Zeit des Hoffens, Bangens und Getrenntseins mit Stolz in den Augen endlich seine Frau und seine Kinder vor. Es gibt Momente in meinem Beruf, die derartig berührend und schön sind, dass ich mich selbst nur beglückwünschen kann, einen Weg eingeschlagen zu haben, der mich an der Tiefe von Geschichten, die das Leben schreibt, teilhaben lässt.

Hier stehe ich nun also an der Schwelle. Ich stand schon vorher hier. Ich stehe hier schon seit Jahren. Die Probleme sind immer noch die gleichen: Es gibt viel zu wenig Deutschkursplätze. Daran hat sich nichts geändert. Nur dass die öffentliche Hysterie und damit der Druck von außen auf die Betroffenen noch viel höher geworden sind. Kann man nicht nachweisen, dass man in einem Deutschkurs ist, wird die Mindestsicherung gestrichen. Da geht es um Existenzen von Familien, und das, obwohl immer noch bei Weitem nicht genug Kursplätze zur Verfügung stehen, gerade in kleineren Städten und Gemeinden. Eine hektische Anspannung ist entstanden, die in jeder Faser meines Berufsalltags spürbar ist, und die für meine Aufgabe alles andere als förderlich ist.

Da erblicke ich schon die ersten Gestalten, wie sie die Straße heraufkommen. Sie winken mir schon von weitem zu. Als sie da sind, begrüßen sie mich respektvoll und suchen sich verlegen einen Platz im Kursraum. Sie sind viel zu früh dran und eine angespannte Stille hängt in der Luft. Die meisten schauen auf den Tisch. Manche lächeln mir schüchtern zu und wirken fast erleichtert, als ich ihr Lächeln erwidere. Sie wissen noch nicht, was sie erwarten wird. Sie wissen nicht, ob sie gut genug sein werden und ob ich ihnen den Kopf abreiße, falls sie es nicht sind. In zwei Wochen schon werden sie den Deutschkursraum wie ausgewechselt betreten. Erhobenen Hauptes werden sie mich selbstsicher begrüßen und sich nach meinem Befinden erkundigen. Sie werden lernen, die Situation und mich einzuschätzen. In den nächsten Monaten werden wir zusammen arbeiten bis die Köpfe rauchen. Wir werden auch viel lachen, weil es ohne Humor nicht geht. Irgendwo zwischen Personalpronomen und Akkusativobjekten werden wir aneinander verzweifeln, nur um uns im nächsten Moment wieder zusammenzuraufen und weiterzumachen.

Ich werde mich scherzhalber für die deutsche Sprache entschuldigen und ihnen die Feinheiten des Tiroler Dialekts erklären. Und sie werden erste sprachliche Erfolge, vor allem aber auch einen großen Haufen neuer Misserfolge auf dem Weg ins neue Leben ernten. Manche werden sich davon mehr, andere weniger entmutigen lassen. Letztere werden vermeintlich schneller Deutsch lernen, erstere werden vermutlich mehr auf die Korrektheit ihres Deutsch achten. Manche werden mich (heraus)fordern. Manche werde ich (über)fordern, nur um dann wieder 3 Schritte zurückzugehen und von vorne anzufangen, nur viel langsamer. Die einen werden Streber sein, was bei anderen nur ein genervtes Augenrollen hervorrufen wird.

Und all das ist gut und richtig so. Denn sie alle, wie sie da vor mir sitzen, sind Menschen, erwachsene Menschen. Sie sind nicht „die Flüchtlinge“, die alle gleich sind. Es ist nicht ihre Aufgabe, das Klischee einer homogenen Masse zu erfüllen. Und es ist nicht meine Aufgabe, sie dauernd wie hingefallene Kleinkinder zu bemitleiden. Denn eigentlich, das verstehen nur die meisten nicht, geht es gar nicht um Dativ und Nebensätze. Eigentlich geht es darum, Menschen dabei zu unterstützen, ihre Stimme wiederzufinden, die sie in den Kriegswirren zusammen mit all ihren Habseligkeiten zurücklassen mussten oder unterwegs verloren haben. Es ist ein Prozess der Emanzipation, der Befreiung aus Abhängigkeiten hin zu einem neuen, selbstbestimmten Leben. Er beginnt in dem Moment, als sie das erste Mal einen Fuß in den Kursraum setzen. Schritt für Schritt. Natürlich ist das ein aufreibender Prozess, für alle Beteiligten. Und allzu oft denke ich am Ende eines Tages, dass meine persönliche Obergrenze längst erreicht ist. Und dann stelle ich am nächsten Tag immer wieder erstaunt fest, dass ein bisschen immer noch möglich ist.

Endlich geht es los. Die Tür geht zu. „Herzlich willkommen im Deutschkurs!“

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