Wie ich dich richtig loslasse…

Ich bin gerade wieder am Weg zurück zu mir, in meine Wohnung, als ich innehalte, weil mir auffällt, dass irgendwas nicht richtig ist…

Dabei habe ich das neue Jahr richtig gut geplant. Noch nie war ich so gut vorbereitet auf alles, was da kommen könnte. Einen Dreimonatsplan hatte ich für jeden meiner Lebensbereiche. Und sogar ein Motto hatte ich dem neuen Jahr gegeben: Loslassen. Ich habe mir fest vorgenommen, alles loszulassen, was irgendwie loszulassen ist, um auf diese Weise mehr zu mir zu kommen, mehr Freiraum zu haben und mich besser entwickeln zu können. Das betrifft vor allem Materielles, aber auch vielleicht alte Pläne und Ziele, die nicht mehr zu mir passen. Und irgendwie, wenn ich so genau darüber nachdenke, wollte ich mich damit vielleicht auch selbst von der Verantwortung lösen für alles, was mir nahesteht. Nichts und niemanden mehr so nahe an mich ranlassen, dass ich es oder ihn nicht auch spielend loslassen könnte…

Und dann kamst du. Bist durch die Hintertür in mein Leben geschneit, während ich noch damit beschäftigt war, meinen perfekten Plan mit Textmarkern zu bearbeiten. Und einfach so hast du alles in mir geöffnet. Jeden schweren Vorhang in mir hast du aufgerissen, frische Luft hereingelassen durch jedes Fenster, jede Tür… In mir war alles plötzlich voller Licht. In meinem Inneren war auf einmal alles in Bewegung und genau so schnell und heimlich, wie du hereingekommen bist, hast auch du dich wieder bewegt, nur diesmal fort von mir. Auch diese Türe hast du offen gelassen hinter dir, und ich merkte es erst so recht, als eine eiskalte Brise mich vollkommen unerwartet von draußen erfasst hat.

Aber das ist schon okay. Es ist in Ordnung, weil ich diesmal alles richtig gemacht habe. Das mit dem dich Gehenlassen. Ich habe mich nicht im Groll versteckt und dich beleidigt für alle Zeit verflucht, ich habe dir sogar in deinem mich Wegstoßen die Hand noch gereicht und dich in Liebe und Dankbarkeit verabschiedet. Das passt schon so. Klar war ich traurig und verletzt, aber ich habe nicht zugelassen, nein dieses eine Mal habe ich nicht zugelassen, dass ich durch meine Verletzung all das Gute, das wir hatten und das du in mir bewirkt hast, nicht mehr sehen kann. Ich habe nicht zugelassen, dass sie mir meinen Selbstwert nimmt und ich mich wieder verschließe, weil ich dieses Mal alles richtig gemacht habe.

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Ein paar Tage habe ich mir Zeit gelassen, bevor ich meine Wohnung aufgeräumt habe, und dabei überall über dich gestolpert bin. Am längsten hat es geaduert, bis ich die Schachtel mit der Schokolade, die wir geteilt hatten und die zu einer Art Insiderwitz zwischen uns geworden war, stand sie doch symbolisch für all das Süße zwischen uns, vom Fensterbrett neben meinem Bett entfernen konnte. Ein Stück war noch übrig, aber niemand war mehr da, um es zu teilen. Das war aber auch okay, weil ich ja gerade dabei war, mich von allem zu reinigen und weil ich ja diesmal wirklich alles richtig gemacht habe.

Beim Friseur bin ich sogar gewesen, nur um die Spitzen zu schneiden und meine Haare fühlten sich so fantastisch an, wie ich mich fühlte. Ich habe mich in die Arbeit gekniet und war mein bestes Selbst die ganze Zeit. Ich habe weitergemacht und andere getroffen. Jetzt weiß ich auch, dass Grafikdesigner, 42, nicht so sehr auf dominante Frauen steht und habe erfahren, dass Manager, 38, eher ganz natürlichen Haarwuchs bei Frauen bevorzugt. Dann habe ich mich lieber mehr mit Menschen umgeben, die mir guttun und die mich lieben, alles nur um die eine Lücke zuzudecken, in der nichts mehr war. Und als ich verstanden habe, dass es ziellos ist, das alles zuzudecken, bin ich ruhig geworden. Ich habe aufgehört zu suchen, was nicht ist. Ich miste meine Wohnung aus, versuche einen Neustart. Weil ich dieses Mal alles richtig gemacht habe.

Ich hab sogar vergessen, wütend zu sein, hab die Stimme in mir vergessen, die dich trotz allem tobend anschreit und dir sagt, was für ein Arsch du bist, während sie mich liebevoll in den Arm nimmt und tröstet. Aufs Traurigsein und das Weinen habe ich vergessen – wozu auch? Mein Kopf versteht das. Es ist in Ordnung. Es passt. Kein Ding. Nur mein Herz wäre bereit gewesen, wenn nötig alle Superhelden persönlich aufzusuchen, weil Superhelden immer für das Gute kämpfen und ich wollte so sehr, dass das mit uns gut ist. Aber das war es nicht und das ist okay. Es irritiert mich nicht weiter, weil ich ja alles richtig mache, dieses Mal.

Moment! Das stimmt nicht….. Ich habe das Altpapier gerade in den Plastikcontainer gekippt. Das war es, was nicht richtig war. Also hänge ich jetzt da mit dem Oberkörper zur Hälfte in diesem grindigen Container, nur um mit einem Besenstiel meinen Papiermüll wieder rauszuholen. Hier drin ist alles dunkel und dumpf und geräuschlos. Das ganze Getöse in meinem Kopf ist weg und dann ist da der Gedanke an dich. Ich sitze dir gegenüber, in diesem stillen, isolierten Raum, ohne Maske und bis zum Hals in meinem eigenen Müll. Echter und realer werde ich nicht mehr. „Was machst du immer noch hier, in meinen Gedanken?“, konfrontiere ich dich, „Was hast du hier noch zu suchen?“. Du sitzt nur da und schenkst mir keine Antwort. Realer wirst auch du nicht mehr. Ich wühle und wühle immer weiter. Und als ich schon glaube, es wäre geschafft, es kommt nichts mehr, entdecke ich sie ganz weit unten: die Schokoladenschachtel. All das Süße zwischen uns lacht mich geradezu ironisch vom Boden des Containers an. Den ganzen Müll hier musste ich durchwühlen, musste mit dem halben Körper in diesen schmutzigen und grausligen Container kriechen, nur um dich noch einmal zu sehen und mit dir all das Süße zwischen uns. Ich habe es dann vorsichtig und achtsam von dem ganzen anderen Mist getrennt. Nichts daran ist schön oder stark oder glamourös oder richtig, und doch: Wenn ich noch einmal entscheiden könnte, wäre ich wieder diejenige von uns, die mit beiden Händen in den Dreck greift und es dennoch schafft, das Schöne zwischen uns zu retten, während du nur schweigst. Und so lasse ich dich jetzt richtig los.

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