Mein ganz persönliches OOOOOOOHHHHHMMMM

„You’re my heart, you’re my soul – hit me baby one – HOW MUCH IS THE FISH“ – das ist also er also, der Soundtrack, den mein Kopf irgendwo im Hintergrund abspielt, während ich auf der Suche nach innerer Ruhe bin.

Normalerweise bin ich ja eher impulsiv. Das ist die charmante Umschreibung für dauernd genervt und ungeduldig. In Wahrheit halte ich andere Menschen die meiste Zeit über gar nicht aus und lasse sie das nicht selten durch Empörungsgeräusche und Vorwurfsblicke spüren. Auf dem Weg zur inneren Weisheit, zu einem höheren spirituellen Ich ist mir aber klar geworden, dass ich selbst darunter mehr leide als andere. Also habe ich beschlossen, dem Jähzorn ein jähes Ende zu setzen, und mich auf die Reise zu mehr Ausgeglichenheit, zu innerer Balance und spirituellem Reichtum begeben.

Schritt eins: Im Einklang mit der Natur schon im Morgengrauen aufstehen. Ich hatte mir den Wecker also bereits auf 05:30 gestellt. Das sollte helfen, die ersten Stunden des Tages für ein ausgiebiges Achtsamkeitsritual zu nutzen, anstatt sich gleich in die Wirren der Welt zu stürzen. Nach 37-maligem Betätigen der Snoozetaste krabbelte ich dann also vollkommen übermüdet irgendwann um 07:45 aus dem Bett. Und da war er auch schon, zum ersten Mal: der Gedanke aufzuhören. Aber nein, so leicht wollte ich mich nicht in die Knie zwingen lassen.

Also sitze ich jetzt hier stattdessen im Schneidersitz ganz ohne Koffein im Blut und mit geschlossenen Augen auf der Suche nach der inneren Ruhe. Gaaaaanz tief einatmen und ausatmen. Für mein Gehirn der perfekte Anlass, eine Compilation der grottigsten Ohrwürmer des vergangenen Jahrtausends abzuspielen. Ich versuche es aber weiter, ich atme weiter (was sollte ich auch sonst machen), als ich plötzlich ein fremdartiges Summen höre. Es ist zunächst ganz leise und ich bin sicher, dass dies das Geräusch meiner inneren Schwingung ist, mein ganz persönlicher Flow. Jetzt bloß nicht aufgeben und genau hinhören. Eiiiiinaaaatmen und ausatmen. Tatsächlich wird das Summen mit der Zeit immer lauter. Eeeeinatmeeeeeeen und ausatmen und eiiiiiiin- Aaaaaaaaahhh fuck, ich habe eine Fliege durch die Nase eingeatmet und weil ich so fleißig beim Atmen war hat sie sich direkt ihren Weg hinunter in meine Kehle gebahnt. Dort hat das Summen dann aufgehört, kurz bevor ich sie ganz verschluckt hatte.

Jetzt bloß nicht aufregen und in mein altes Muster zurückfallen. Versuche in jeder Situation das Positive zu sehen. Ein eiweißreiches Frühstück soll ja schließlich gesund sein.

Weiter geht’s mit ein bisschen Yoga, bei dem ich mir gleich mehrere Muskeln zerre. Aber hey, immerhin komme ich mit gezerrten Muskeln gar nicht erst auf die Idee, nach dem Zucker im obersten Regal zu greifen. Schließlich ist Zucker ja das Schlimmste, was ich mir, meinem Körper und meiner geistigen Wachheit antun kann. Wer will schon dauernd unter Drogen stehen, wenn er sich stattdessen auch Muskeln zerren und auf ungesüßten Matchatee als Kaffeeersatz zurückgreifen kann. Matchatee macht angeblich auch viel klarer und hält länger wach.

Hellwach bin ich dann auch, als ich – ohne Frühstück, dafür aber mit eiweißreicher Fliege im Bauch – eh schon viel zu spät an der Straßenbahnhaltestelle stehe. Um mich herum ein Haufen Halbwüchsiger und Kinder, die zum Schulausflug aufbrechen. In meinem früheren überzuckerten Koffeinzustand hätte mich das jetzt aufgeregt. Aber jetzt, wo ich so klar im Kopf und so bewusst aus meinem Morgenritual komme, nehme ich einfach den Schmerz in meiner Ferse viel intensiver wahr, als mir eines von den lieblichen Wesen, die einst unser aller Zukunft sind, voll mit seinem Roller drüberbrettert. Und weil das Leben uns immer den gleichen Schmerz schickt, bis wir daraus lernen, auch noch gleich sein Kumpel hinterher. Ich fühle den Schmerz und bin ganz bei mir. Wenn das Leben dir Halbwüchsige auf einem Roller schickt, lerne auszuweichen und sieh es als Chance, deine Flexibilität zu trainieren.

Schließlich komme ich viel zu spät in der Arbeit an. Mit ankommen meine ich in dem Fall meinen quasimodoartigen Auftritt dank gezerrter Muskeln und Schmerzen in der Ferse. Aber ich nehme mich und meinen Körper so an, wie er ist. Am wichtigsten ist es doch, sich selbst erst mal zu akzeptieren. Dann kann man auch alles andere um sich herum leichter akzeptieren. Schön, dass ich bereits am ersten Tag solche enormen Fortschritte mache.

Für mein geplantes Tagespensum ist es bereits zu spät, aber Zeit ist ja schließlich nur eine Illusion, ein Konstrukt, so wie Fliegengitter, die ich vielleicht an meinen Fenstern anbringen sollte. Schließlich kannst du die Umstände nicht ändern, du kannst dich ihnen nur anpassen.

Im Büro den Umständen entsprechend angekrochen ist meine Kollegin im Gespräch mit einem Typen, schätzungsweise um die 40, Immobilienmakler, Fassade geschliffen. „Ach, es arbeiten nur Frauen hier?“, ist der erste Gesprächsfetzen, den ich aufschnappe, „Na dann gibt’s bei euch ja sicher dauernd nur Zickenkrieg!“. Die Blicke von meiner Kollegin und mir treffen sich. „Dreckiger Sexist!“ schießt mir durch den Kopf und als ich es schon scheinbar unverständlich in meine Hand husten möchte, fällt mir ein, dass die Kritik, die wir nach außen üben schließlich am Ende auch nur ein Spiegel der eigenen Seele ist. Das Sticheln gegen Frauen ist vermutlich nur ein Ausdruck der tiefen Benachteiligung, die dieser weiße, heterosexuelle, privilegierte, westeuropäische Mann in unserer Gesellschaft erfährt. So wird es wohl sein. Am besten, ich zünde ihm heute Abend eine Kerze an.

Nach der Arbeit schnell noch in den Supermarkt, als ich an der Kassa mitten in eine Unterhaltung gerate. Also eigentlich war ich schon vorher da, und die Unterhaltung ist um mich herumgeraten, weil meine Hinterfrau beschlossen hat, es wäre jetzt der perfekte Zeitpunkt, sich mit einem Bekannten viel weiter vorne lautstark über ihre neuen Badezimmerfliesen zu unterhalten. Einen anderen Zeitpunkt hat es dafür anscheinend nicht gegeben und man soll ja die Bedürfnisse seiner Mitmenschen stets ernst nehmen. Diese Dame hatte augenscheinlich ein dringendes Bedürfnis. Nicht nur ein dringendes Mitteilungsbedürfnis, sondern auch das dringende Bedürfnis, mir dauernd mit ihrem Wagen auf die Pelle zu rücken und gegen mein Hinterteil zu fahren. Plötzlich höre ich ein leises OOOOHHHHMMMMM und halte verstört Ausschau nach einer Fliege. Wo kam das her? Um nicht in mein altes Muster zurückzufallen, packe ich schnell meine Sachen, sprinte raus und stürze mich in die nächste Straßenbahn.

Erstmal hinsetzen und durchatmen. Aber nicht zu tief – aus Erfahrung lernt man. Als ich aufblicke sehe ich eine Mutter mit einem Kind mir schräg gegenübersitzen. Offensichtlich möchte das Kind irgendetwas, das die Mutter ihm halbherzig untersagt. Also beginnt das Kind in einem regelmäßigen Rhythmus lautstark seine Mutter als „Blöde Kuh!“ zu beschimpfen. Alle sind merklich genervt, nur die Mutter nimmt die dauernd sich wiederholende Beleidigung stillschweigend hin. Da ist es wieder: OOOOHHHHMMMM. OOOOOHHHMMMM. Ich schließe die Augen und versuche mich zu zentrieren, mich ganz auf mich zu konzentrieren. „Blöde Kuh, blöde Kuh, blöde Kuh, blöde Kuh!“ Die Stimme des Kindes dringt immer wieder an mein Ohr und vereint sich plötzlich mit dem OOOOOHHHHHM zu einem eintönigen Geräusch.

Da ist er – mein Moment der Erleuchtung, mein spiritueller Zenit, eine außerkörperliche Erfahrung, als ich mich plötzlich selbst hochfahren sehe und wild herumbrülle: „HALT DIE FRESSE, ELENDIGER SAUFRATZ, SELBER BLÖDE KUH, WAS BILDEST DU DIR EIN, ASOZIALES PACK MIT SEINEN SCHEIßROLLERN, ICH SCHEIß AUF YOGA UND DAS SEXISTISCHE ARSCHGESICHT KANN MICH MAL KREUZWEISE, WAS SOLL ÜBERHAUPT DER SCHEIß MIT DEM EINKAUFSWAGEN DA DIE GANZE ZEIT, HABT IHR ALLE NOCH NIE VON ABSTAND GEHÖRT, WER WILL SCHON KACKBRAUNE BADFLIESEN ZUM TEUFEL????!!!!!“

Während mich alle noch verdutzt anstarren und jetzt auf einmal MICH als komplett durchgeknallt einstufen, steige ich aus der Bahn und fühle mich lebendiger denn je. Ich bin gefestigt und  ausgeglichen wie noch nie, denn endlich, endlich hatte ich sie gefunden, meine Mitte. Und mit ihr mein ganz persönliches Mantra, und das geht so: OOOOOOOOHHHHHH MMMMMMMMMein Gott, lasst mich doch einfach alle in Ruhe mit eurem Scheiß!“.

Noch nie war ich so im Einklang mit mir und der Welt. Zeit spielt in diesem Zustand wahrhaftig gar keine Rolle mehr, aber morgen, ja morgen, da schlaf ich erst mal aus.

 

 

1 thought on “Mein ganz persönliches OOOOOOOHHHHHMMMM

  1. Sehr unterhaltsam und geistvoll!! Vielen Dank für Deinen Hinweis! Habe durch schlechte Netzverbindung in Griechenland allerdings erst jetzt Gelegenheit gehabt, zu lesen. Aber auf der anderen Seite hat eine fehlende Anbindung an den Rest der Welt auch sehr positive Seiten… Freu mich schon auf weitere Beiträge bzw. auf unser nächstes Treffen!
    Liebe Grüsse Gerhard

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